Wer nicht fragt der nicht gewinnt!

14.06.2012 von Rotschopf in Literatur und Quellenrecherche

Inspiriert von Niko’s Artikel zur Bildquelle wollte ich den Bereich Interpretation von Quellen noch etwas ausbauen.

Mit Quellen ist das so eine Sache, das was man sieht ist selten das, was ihr Verfasser sagen will.
Die sogenannte „Quellenkritik“ nimmt in diversen Studiengängen ein eigenes Fach ein. Und selbst da können Professoren nur ein paar Leitlinien geben und Stolpersteine aufzeigen. Letztendlich ist es nämlich bei jeder Quelle anders und jede muss anders behandelt werden. Bei manchen Quellen streiten sich sogar die besten Fachleute darum, was sie bedeuten und welchen Inhalt sie haben. Um mit Quellen adäquat umgehen zu können braucht es eine Menge Fingerspitzengefühl, viel Erfahrung und noch viel mehr Vorwissen.
Aber wie soll man das bekommen, wenn man nicht irgendwo anfängt?


Ich versuche euch hier jetzt mal eine kleine „Checkliste“ zu geben, die ihr bei jeder Quelle gedanklich durchgehen könnt, um euch euer eigenes Bild zu machen. Wohlgemerkt, wir sprechen hier von Primärquellen, das heißt Abbildungen in ihrem historischen Original und Werken, die diese fast unkommentiert und uninterpretiert abbilden (Sekundärquellen). Fürs erste werden wir uns mal auf Bildquellen konzentrieren, da hier die meisten Interpretationsfehler passieren können, sie aber eine der Hauptquellen der meisten Darsteller bei der Rekonstruktion sind.

1) Der moderne Betrachter
… ist von seiner Umgebung stark geprägt. Er erkennt in allem, was ihn umgibt, die diffizielen Zusammenhänge. Er weiß dass eine orangefarbene Jacke meist zu Arbeitern im Bau- oder Müllgewerbe gehört. Er weiß dass ein weißes Achteck mit rotem Rand für ihn bedeutet, stehenzubleiben. All diese Assoziationen sind angelernt und stehen in Zusammenhang mit der Umwelt seiner Lebenszeit. Jemand vor 1000 Jahren oder in 1000 Jahren weiß das nicht. Diese uns seit unserer Kindheit eigene Beeinflussung auszuschalten ist schwer und muss trainiert werden.

2) Der historische Betrachter
…ist ebenso wie der moderne in seiner eigenen Welt aufgewachsen, die ihre eigenen Regeln hat. Diese Regeln zu kennen hilft dem modernen Betrachter schon sehr viel weiter. Der historische Mensch kann oft weder lesen noch rechnen und muss deshalb auf Abbildungen zurückgreifen, die ihm Zusammenhänge erklären sollen.

3) Der Erschaffer der Quelle
… hat ebenso eine kulturelle Prägung, die vielleicht sogar anders ist als die Lebensrealität des historischen Betrachters (übertrieben konservative Abbildungen aus klösterlichen Werkstätten). Er möchte mit seinem Bild oder seiner Schrift eine bestimmte Botschaft lehren und offenbart gleichermaßen sich selbst.

4) Wenn wir ein Bild betrachten, sollten wir uns folgendes fragen:

  • Woher kommt dieses Bild, ist es in einer Bibel oder in einem Werk, in dem es um Minnesang geht? Steht es für sich allein in einem höfischen Zimmer?
  • Warum ist es in diesem Buch, gibt es vielleicht daneben erklärende Schriften oder Texte, die hiermit illustriert werden sollen?
  • Wer hat das Bild beauftragt? Wer bezahlt den Künstler? Ist es vielleicht ein adliger Herrscher, der nur seine eigene schillernde Welt sehen möchte? Ist es ein Priester, der damit zu Keuschheit und Buße aufrufen möchte?
  • Was wird hier überhaupt dargestellt, welche Szene, welcher Krieg, welche Landschaft? Sind es Bilder aus der historischen Realität oder Mythen, Bibelszenen oder erfundene Situationen um ein Gleichnis zu schaffen? Die wenigsten Bilder des Mittelalters werden erschaffen, um einfach nur abzubilden ohne Botschaft. Erst später, als der Künstler nicht mehr bezahlter Handwerker, sondern gesellschaftskritischer Betracher ist, können Werke wie zB Vincent van Goghs Kartoffelesser entstehen, die einfach nur die Faszination des Moments abbilden.
  • Wer sind die abgebildeten Personen? Welchem Stand gehören sie an? Welchen Beruf haben sie? Sind sie vielleicht Teil einer Minderheit (Juden)? Welche Lebensumstände begleiten sie, sind sie verheiratet, verwittwet? Sind sie gar Heilige oder mythische Personen wie König David?
  • Was tun die abgebildeten Personen? Sind sie reuige Sünder, unmoralisch oder besonders tugendhaft? Sind sie in der Umgebung des Bildes zu Hause oder kommen sie aus exotischen Ländern? Stehen sie im Fokus einer Kritik oder sollen sie als Vorbild gelten? Befinden sie sich in einer Alltagssituation oder erwarten sie den Besuch eines Königs? Sollen hier vielleicht bewusst Standesunterschiede heraus gebracht werden, so dass einige besonders ärmlich und andere besonders prachtvoll sind?
  • Welche Accessoirs tragen die Personen mit sich? Sind sie wirklich Abbildungen der Realität oder sollen sie die Personen kennzeichnen?
  • Spielt die Szene überhaupt in der Jetztzeit des Erschaffenden? Möchte er vielleicht (für ihn) historische Ereignisse darstellen? Entspricht die Kleidung dem, was zur Zeit des Erschaffenden modisch ist oder zur Zeit der Szene? Oder verwirklicht er hier gar seine krummen Vorstellungen der Kleidung dieser Zeit?
  • Welches Talent hatte der Maler, konnte er Perspektive richtig abbilden? Hatte er gesehenes noch richtig im Gedächtnis? Versteht er etwas von den abgebildeten Dingen und kann sie richtig wiedergeben (zB Maschinerien, komplizierte Kleiderschnitte)?

Besondere Achtung gilt bei:

  • Exotischer Kleidung: Oft sollen hier Ausländer gezeigt werden, z.B. Musulmanen, die gerade einen christlichen Märtyrer hinrichten
  • Besonders modischer Kleidung: Oft soll hier überspitzt auf Eitelkeit oder Wucher hingewiesen werden
  • Prächtiger, sehr faltenreicher Kleidung: Oft ein Hinweis auf materiellen Reichtum des abgebildeten, Adel oder aber auch Wucher
  • Ungewöhnlichen Accessoires: Ein spitzer Hut beispielsweise kennzeichnet oft Juden, manche Kopfbedeckungen sind typisch für bestimmte Regionen
  • Togaartiger Bekleidung: Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist hier ein Heiliger nach antikem Vorbild dargestellt, die Kleidung von Heiligen oder von Menschen in Darstellungen von Bibelszenen ist mit äußerster Vorsicht zu genießen, da in hohem Maße symbolisch zu werten, auch wird man nur selten die Kleidung des einfachen Mannes an einem Heiligen oder gar an Maria finden.
  • Bestimmten Farben: Die Kombination rot und blau ist z.B. signifikant für die Muttergottes, gelb weist auf Lust und Lebensfreude hin, grün gilt als Farbe der Unschuld und der neuen (Frühlings-) Liebe, besonders dunkle Rottöne kennzeichnen Adelige. Manchmal kennzeichnen bestimmte Farben oder Muster auch eine bestimmte Familie oder ein Geschlecht, wie eine Art Wappen.

Zum Schluss kann man empfehlen, immer mehr als eine Quelle heranzuziehen, wir halten es für uns so, dass wir immer zwei oder drei verschiedene Quellen (Bild+Schrift oder Schrift+Fund oder Bild+Fund) heranziehen, wenn es sein muss auch mehrere Bilder ein und des selben, um sicher zu sein. Erst in ihrem Kontext, in der Vielzahl von vergleichbaren Quellen und im Vergleich mit anderen Quellen ergeben sie ein gutes Bild.

Quelle: mein Studium und meine eigenen Gedankenprozesse.