Die Haarlocke als Liebesgeschenk
Heute möchte ich mit euch über ein besonderes Material mittelalterlicher Sachkultur sprechen, über menschliches Haar.
Zu den vielen symbolischen Aspekten von menschlichem Haar habe ich euch weiter unten einiges an interessanter Literatur verlinkt, denn über das Thema wurde von Historikern viel und oft geschrieben. Mir geht es aber konkret heute um Haare und Haarlocken als Liebesgeschenke und Erinnerungsstücke. Die Tradition, Haare als Erinnerung an einen geliebten Menschen aufzuheben und zu verarbeiten, kommt ganz besonders im 19. Jahrhundert in Mode, aus dem wir heute unzählige erhaltene Schmuckstücke und Kunststücke aus menschlichem Haar erhalten haben. Und seht euch nur diese fantastische Spitzenarbeit aus Menschenhaar aus dem frühen 17. Jahrhundert an!
Aber auch davor war menschliches Haar bereits ein emotional, magisch und teils erotisch aufgeladenes Material, ein Stück eines Körpers eines besonderen Menschen, das abgeschnitten, verschenkt und als Talisman aufgehoben werden konnte.
Besonders als Reliquien waren Haare von Heiligen oft in Verwendung. Karl der Große Beispielsweise besaß einen Talisman, in dem angeblich die Haare der Jungfrau Maria als Reliquie enthalten sein sollten. Und in den Aufzeichnungen des Inquisitors Jacques Fournier aus dem 14. Jahrhundert schreibt er von einer Familie, die die Fingernägel und Haare ihrer Vorfahren aufbewahrt, um den Haus Glück und Erfolg zu verschaffen.
In seinem Traktat zur höfischen Liebe „De Amore libri tres“ (Drei Bücher der Liebe) schreibt der Autor Andreas Capellanus zu Ende des 12. Jahrhunderts:
„Eine Liebende mag frei von ihrem Geliebten die folgenden Dinge entgegennehmen: Ein Taschentuch, ein Haarband, ein Schapel aus Gold oder Silber, eine Brosche für die Brust, einen Spiegel, eine Geldbörse, eine Nestelschnur für die Kleidung, einen Kamm, Ärmel, Handschuhe, einen Ring, eine Schachtel, ein Andenken an den Geliebten und – um es allgemeiner auszudrücken – eine Dame kann von ihrem Geliebten jedes kleine Geschenk entgegennehmen, das nützlich für ihre persönliche Pflege ist, das hübsch aussieht oder das sie an ihren Geliebten erinnert, sofern sie natürlich im Annehmen des Geschenks nicht gierig ist.“
Die Sitte, dem Liebsten oder der Liebsten intime kleine Geschenke zu machen, finden wir vor allem oft in höfischer Dichtung, in Sagen und Geschichten der Zeit, sie spiegelt sich allerdings auch deutlich im archäologischen Fundgut wieder.
Beliebte Geschenke, die wir heute noch als Originale erhalten haben, sind oft Objekte, die nah an den Körper des Geliebten Menschen herankommen und somit eine Intimität mit ihm teilen, die dem Verehrer noch verwehrt bleibt. Gürtel, Scheitelnadeln und Kämme beispielsweise.
Diese Intimität vermittelt auch die Haarlocke als Geschenk, oft von Frauen an Männer (da hier das Haar besonders intimen Charakter hat, ist es doch gewöhnlich oft unter Schleiern versteckt), aber auch umgekehrt. So heißt es beispielsweise in der Abenteuergeschichte “Le Chevalier de la charette” vom Dichter Chretien de Troyes im 12. Jahrhundert, die aus einem Reigen von Geschichten rund um König Artus stammt, dass Lancelot auf einem Ausritt auf einem Stein den Kamm von Königin Guinevere findet, mit einigen ihrer goldenen Haare noch darin. Er hebt den Kamm auf, drückt das Haar an sein Gesicht und seinen Mund und fühlt sich dadurch Guinevere nah.
Besonders gerne werden Haarlocken verschenkt als Erinnerungsstücke, wenn einer der Partner auf Reisen gehen muss. In der französischen Geschichte “Aucassin et Nicolette” aus dem 12. Jahrhundert heißt es beispielsweise:
„Schnitt sie denn ab die goldene Locke, gab sie ihrem Liebsten; Aucassin sah den goldenen Schein in der Finsternis, er nahm die Locke von ihr, küsste sie und verwahrte sie an seiner Brust, mit Tränen in seinen Augen für Nicolette.“
Und in der französischen Geschichte “Castelain de Couci et de la Dame de Fayel “ aus dem 14. Jahrhundert werden Locken ausgetauscht zwischen zwei Liebenden vor ihrer Trennung.
Und auch die Verarbeitung von Menschenhaar in zB Gürteln, Haarbändern oder Kleidungsstücken wird hin und wieder erwähnt.
Beispielsweise dreht sich das Gedicht “Cligés” von Chretien de Troyes aus dem 12. Jahrhundert, um den Sohn des griechischen Kaisers, Alexander, der in das Reich von König Artus kommt und dort die Nichte von Artus, Soredamor trifft. (Ja, bitte nehmt das einfach so hin, mittelalterliche Autoren lieben es, berühmte Personen der Geschichte und König Artus in neue Dichtungen zu verwursten. Und wer sind wir, das zu kritisieren, die wir Leinwandhits wie „Alien vs. Predator“ anschauen :-D )
Soredamor, heimlich verliebt in Alixandre, lässt ihm ein Hemd zukommen, das sie – von ihm unbemerkt – mit ihrem eigenen Haar als Faden genäht hat. Hier nimmt das Haar eine magische Position ein, denn es soll einen Liebeszauber auf Alixandre ausüben, so dass er Soredamor seine Liebe gestehen kann.
Ein ganz besonders schönes Stück mittelalterlicher Menschenhaarverarbeitung findet sich in unter den Grönländischen Textilfunden aus “Woven into the earth”, wo ein fast perfekt erhaltenes Halsband oder Schapel aus verzwirnten, blonden Menschenhaaren im Inneren einer mittelalterlichen Hütte, der „Farm under the sand“ gefunden wurde, das wohl als Liebesgeschenk gedacht war. (Seite 108)
Ja. Und warum erzähle ich euch das jetzt alles? Weil es interessant ist. Und weil ich keine Historikerin bin, sondern ein Living Historian, die sich vor allem mit Realien beschäftigt, habe ich für meinen Schautisch zum Thema Frau im Mittelalter eine Haarlocke als Beispiel für Liebesgeschenke und als Gesprächseröffnung über mittelalterliche Haarmoden und Verhüllungspraxis hergestellt und dafür noch einen schönen Beutel für die Aufbewahrung gemacht. Und sie hat ihren Zweck gut erfüllt.
Die Locke selbst ist eine Spende von einer mir lieben Person. Gelbe und rote Seide, Goldlahn und Korallenperlen habe ich hier verarbeitet und das Verschlussband ist ein ganz besonderes Stück, das die liebe Martina von den Blidenbauern mir zum Geschenk gemacht hat. Es ist vom Rohmaterial, also vom Seidenkokon weg komplett von ihr handgemacht, wurde von ihr gehaspelt, gezwirnt, gefärbt und gelooped und ist mir daher ein besonderer Schatz.
Zum Weiterlesen:
Symbolic meanings of hair in the middle ages
Objectifying Love: Ladies and Their Tokens, Saints and Their Relics in Chrétien de Troyes
A cultural history of hair in the middle ages
Heart Economies: Love Tokens and Objects of Affection in Twelfth-Century French Literature
Thresholds of Medieval Visual Culture
Montaillou: Cosmology and Social Structure
The hair as Remembrancer: Hairwork and the technology of memory
Eyebrows, Hairlines and Hair less in Sight
Haarpflege und Frisuren im Spätmittelalter
Ambiguous locks: An iconology of hair in medieval art and literature
Verwandte Beiträge
Die folgenden Beiträge könnten Sie ebenfalls interessieren: